Biopsychosoziale Modell
Das biopsychosoziale Modell
(aus dem Buch „Gesundheit ist kein Zufall“)
Mit diesen Überlegungen ist die gedankliche Vorarbeit zur heutigen Sichtweise, die in der modernen Psychosomatik eine unteilbare biopsychosoziale Einheit des Menschen sieht, geleistet. Dieses biopsychosoziale Modell baut auf der Theorie auf, dass Körper und Seele sich bei der Krankheit wechselseitig beeinflussen, als organische Einheit. Danach entwickeln sich psychosomatische Krankheiten in Korrelation zwischen Erlebnis und diesem Erlebnis zugeordneten körperlichen Leistungen. Es wird dabei oftmals von der Organwahl gesprochen, was zum Ausdruck bringt, dass psychische Leiden ihren Ausdruck in der körperlichen Erkrankung bestimmter Organe finden.
Als ein Problem stellt sich da unweigerlich die schulmedizinische Ausbildung dar, denn der durchschnittlich vorgebildete und approbierte Arzt ist grundsätzlich demgegenüber ‚blind’. Seit Platons Zeiten hat sich nichts geändert in der Denkweise der meisten Ärzte, die Körper und Geist getrennt betrachten. Sie setzen sich nicht mit dem subjektiven Erleben des Patienten auseinander[1]. Borniertheit, Unkenntnis und viel zu dogmatische Lehrmeinungen bilden das Gerüst moderner Schulmedizin und begründen den Absolutismus der Ärzte, der keine anderen Theorien und Erkenntnisse zulässt.
Über das Können seiner Kollegen klagte schon im 18. Jahrhundert Johann Christian Anton Theden[2] in seinem Lehrbuch: Unsere deutsche Wundärzte werden, leyder! größtenteils beim Barbierbecken gebildet. Drei Jahre stehen sie bey den Barbierern und Badern in der Lehre. Nach Verlauf dieser Zeit werden sie Gesellen, und haben weiter nichts gelernt, als den Bart putzen, Pflasterstreichen und Aderlassen, und das letztere oft Handwerksmäßig genug, wovon viele betrübte Beyspiele zeugen. Viele können nicht einmal lesen, und wenn sie auch dieses können, so wissen sie oft eben so wenig, als ihr Lehrer, was sie lesen sollen.
Psychosomatisches Denken geht nicht konform mit einer sozialen Entwicklung, die sich Leistung, Effizienz und Beschleunigung auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zum Psychosomatiker wird ein Patient nur dann geschickt, wenn die Akteure auf dem Feld der traditionellen Ingenieurmedizin mit ihm nicht mehr fertig werden oder aus anderen Gründen ein schlechtes Gewissen entwickeln[3]. Die so im medizinischen Mainstream schwimmenden Ärzte erinnern sich nur in schwachen Stunden an die Psychosomatik, mit der sie sonst nichts zu tun haben wollen. Man kann sich nun fragen, warum denn an den Universitäten nicht mehr auf die Psychosomatik eingegangen wird? Dies lässt sich ganz einfach erklären, die jungen Studenten wollen davon nichts hören, da sie noch keine eigenen Lebenserfahrungen zu Rate ziehen können, keine Bezugspunkte besitzen und somit die Folge von psychischen und sozialen Einflüssen auf den Körper verneinen. Aus einem Abwehrmechanismus heraus distanzieren sie sich von der Psychosomatik.
In der Psychosomatik hat man es immer mit einem höchst individuellen Leiden einer jeweils unverwechselbaren, konkreten Patientenpersönlichkeit zu tun. Aufgrund der Vernetzung mehrerer Ebenen, der sozialen, des biologischen Umfeldes und der Psyche ist man bemüht, den Begriff psychosomatische Krankheit’ gänzlich in ‚biopsychosoziale Krankheit’ umzubenennen[4]. Die Begründung liegt darin, dass es bei der Begriffsverwendung von psychosomatischen Krankheiten auch nicht-psychosomatische Krankheiten geben muss, was nach neusten Erkenntnissen zu verneinen ist. In einem Interview von „Die Zeit“ stellte der Mediziner Thure von Uexküll die Behauptung auf Es gibt nur psychosomatische Krankheiten. Nach dem Volksglauben wären dann alle Krankheiten nur eingebildet. Tatsächlich sind eingebildete Krankheiten Anpassungsstörungen auf der psychosozialen Ebene[5]. In einer sich immer schneller ändernden Umwelt sind derartige Anpassungsstörungen vorprogrammiert. Man sieht dies an der älteren Generation, die häufig mit unserer modernen Welt nicht klar kommt. Oder drücken wir es gelinder aus, alte Menschen fühlen sich in der neuen Umgebung und ihren Bedingungen nicht wohl.
In die gleiche Richtung denkt Prof. Dr. J.W. Egger[6] und fordert ein Überdenken des Begriffes ‚Psychosomatik’. Die herkömmliche Psychosomatik verdanke ihre Existenz einer zweigliedrigen Betrachtungsweise, die physische und psychische Erscheinungsformen trenne. Dies stünde nicht in Übereinstimmung mit den aktuellen Auffassungen einer nicht dualistischen Theorie von Gesundheit und Krankheit. Egger favorisiert den Begriff des ‚biopsychosoziale Modells’. In ihm wird die Person, ihr Erleben und Verhalten, als ein Ganzes gesehen. Allerdings in untergeordnete Systeme untergliedert, wie dem Nerven- und Organsystem. Dieser Systemkomplex bildet eine Ganzheit, in dem nichts isoliert existiert. Bindeglied zwischen Seele und Körper ist das vegetative Nervensystem. Es besteht also eine Leib-Seele-Funktionseinheit, die für die klinische Praxis die Notwendigkeit ergibt, Körper und Geist[7] gemeinsam zu behandeln. Der Übergang von Gesundheit zu Krankheit liegt nicht in seiner Struktur begründet, sondern in Änderungen dieser dynamischen Funktionseinheit.
Der Psychotherapeut Wilhelm Reich[8] meinte bereits Ende der 1930er Jahre: Lebendige Prozesse können demnach nicht nur auf der stofflichen Ebene, sondern auch auf der Ebene ihres bioenergetischen Funktionierens gestört werden. Das therapeutische Konzept von Reich bestand entsprechend in der Auflösung der Blockierungen und in der Wiederherstellung der natürlichen Selbstregulierung des Organismus. Aufgrund dieser Erkenntnisse zeigte sich Wilhelm Reich überzeugt, dass ca. 80 Prozent aller Krankheiten auf eine psychische Belastung zurückzuführen seien.
Nach dem biopsychosozialen System gibt es keine psychosomatischen und keine nicht-psychosomatischen Krankheiten, denn dies widerspräche dem Ganzheits-System. Die analoge Schlussfolgerung dazu wäre nach dem alten Model, dass es ausschließlich psychosomatische Krankheiten gibt und keine rein organischen. Ausnahmen wären lediglich genetische Defekte, wobei man auch hier über eine Seelenkomponente diskutieren könnte und Verletzungen sowie Noxen aufgrund von Fremdeinwirkung, wie Terroranschlag, Gewaltverbrechen, unverschuldeter Autounfall u. a. Selbst Knochenbrüche, Bisswunden, Verbrennungen und ähnliches sind in dieser Ganzheit zu sehen. Was auf den ersten Blick nicht einleuchtend erscheint, erweist sich dennoch als logisch. Bedenkt man die Ursache des Verbrennens oder des Unfalls, bei dem es zu Verletzungen kam, so kann eine psychische Beeinflussung nicht wegdiskutiert werden. Selbst beim Knochenbruch ist das Psychische am Werk[9]. Manche Menschen sind für Knochenbrüche geradezu prädispositioniert, teils wegen zu weicher Knochen oder aufgrund unvorsichtiger Lebensweise. Aus Jux und Tollerei bricht sich grundsätzlich keiner die Knochen, er wird vielmehr durch sein Unterbewusstsein dazu angeleitet. Man ist zu abgelenkt, überschätzt sich oder erkennt einfach nicht die Gefahr. In den USA nennt man diese Leute proned (auf dem Bauch liegend). Gleichermaßen lässt sich der Biss eines Hundes auf der psychischen Ebene deuten. Den dogmatischen Schulmediziner interessiert dabei nur die Bisswunde als solche, in Bezug auf Wundversorgung und Tollwutschutzimpfung. Was den Hund aber zum Beißen veranlasste weniger. Dies ist aber die Kernfrage einer Präventivmedizin. Ist es doch mein Verhalten, meine Angst, meine Unvorsichtigkeit und Unsicherheit, die sich in meiner Ausstrahlung als biosemiotische Zeichen übertragen, in dem Hundebeispiel ebenso wie bei Interaktionen zwischen Menschen. Man beziffert Krankheiten, die in ein rein schulmedizinisches Schema passen mit lediglich 5 Prozent. Die restlichen 95 Prozent sind einem holistischen (ganzheitlichen) System zuzuordnen.
Dr. Rother, Psychosomatiker und leitender Direktor der Inntal-Klinik im Niederbayerischen Simbach am Inn, ist der Meinung, dass die Abhängigkeiten zwischen Psyche, sozialem Umfeld und biologischem System bis in die feinstofflichen Bereiche hineinreichen und eine Wechselwirkung hervorrufen. Dabei wären auch Umwelteinflüsse mit einzubeziehen.
Jeder Mensch lebt seine schizoiden, depressiven, hysterischen und zwanghaften Persönlichkeiten mehr oder weniger aus[10]. Aber genau auf dieses ‚mehr oder weniger’ kommt es an, denn diese Ängste bestimmen maßgeblich unser Handeln. Bei einem ‚mehr’, kommt es zu einer Psychose[11] oder Neurose[12] – wenn sich also der Patient auf eine Grundform fixiert, die sich im Rahmen einer Lebenskrise zu einem unlösbaren Konflikt verdichtet. Eine solche Neurose entwickelt sich zur sozialen Krankheit, wenn der Anspruch der Gesellschaft so terroristisch in das Individuum hineingetragen wird, dass Abweichungen von dem Geforderten intensive Angst erwecken. Jede Störung im psychosozialen Umfeld führt unvermeidbar zu Irritationen und damit zu Angst, die in jedem von uns steckt. In solchen Erlebniskatastrophen, die in Beziehungsebenen Spannungen und Erregungen entstehen, welche keine symptomfreie Verarbeitung mehr zulassen, bilden sich zwangsläufig anhaltende Ängste. Angst ist, von einer gewissen Stärke an, kein produktives Element mehr, sondern bewirkt im Extremfall Panikattacken.
[1] Prof. Alexander Mitscherlich; „Krankheit als Konflikt“ [2] Der Arzt und Freimaurer Theden lebte von 1714 bis 1797 und war königlich preußischer Militärarzt, Chirurg, Naturforscher und Fachbuchautor. [3] Til Bastian / Dietmar Hansch, Psychosomatische Fachklinik Wollmarshöhe [4] George L.Engel; ”Psychological Development in Health and Disease” [5] Thure von Uexküll; „Psychosomatische Medizin – Modelle ärztlichen Denkens und Handelns“ [6] Dr. Josef W. Egger ist an der medizinischen Universität Graz Professor für Verhaltensmedizin, Gesundheitspsychologie und empirische Psychosomatik. [7] Herbert Weiner; „Psychobiologie and Human Disease“ [8] Wilhelm Reich, (* 24.03.1897 in Dobzau, Galizien; † 03.11.1957 in Lewisburg, Pennsylvania, USA) war Psychoanalytiker und Begründer der Körperpsychotherapien. [9] Thure von Uexküll [10] Fritz Riemann; „Grundformen der Angst“ [11] Psychose ist der Sammelbegriff für Erkrankungen, bei denen wichtige psychische Funktionen erheblich gestört sind. [12] Nach W. Cullen und später S. Freud sind Neurosen störende, länger andauernde psychische Verhaltensweisen wie Angst, Furcht, Unsicherheit oder Depression.